P a l a s   do   R e i  -  A r z u a

 
 
 

Auch wenn es am Abend zuvor wegen meiner verzögerten tortilla con patatas etwas später als bislang geworden war, und ich zudem nicht sofort einschlafen konnte, gegen sieben Uhr stieg ich ausgeruht die zwei Stockwerke hinab, ging den abfallenden Weg zur Hauptstraße und dann die breite Treppe hinunter auf den Rathausplatz durch eine schmale Gasse zur N 547, die nach etlichen Überquerungen dank Dumont nach rechts entschwand. Doch blieb sie in der Nähe und sollte auch in der nächsten Etappe eine gewisse Rolle spielen. An einigen riesigen, taghell erleuchteten Hallen vorbei, in denen ohne eine erkennbare Menschenseele Maschinen gespenstisch vor sich hin arbeiteten, deren Warnhinweise das Unheimliche dieser Geschäftigkeit, deren Zweck sich der Sichtbarkeit entzog, noch verstärkte, so als könnte man hier, einmal in ihren geheimnisvollen Sog geraten, auf Nimmerwiedersehn verschwinden.
Noch bevor ich nach einem Waldstück die folgenden Bilder machen konnte, erinnerte mich ein stechender Schmerz im rechten Knie an die glitschige Fußgängerbrücke in Portomarín, ich verwünschte nochmals mein unachtsames Abbiegen in die Dunkelheit, machte einen weiteren Schritt, wieder dieser Schmerz, der mich nun förmlich in die Knie zwang. Nach dem Anlegen einer elastischen Binde, bin ich einige Kilometer nur 'gekrochen'. Nur nicht schlappmachen, war der einzige Gedanke - die Telefonnummer eines Taxiunternehmens aus Melide, die ich bald darauf am Wege sah, habe ich ignoriert. Die nun häufigeren Erholungspausen nutzte ich zum Fotografieren, so gibt es von dieser Etappe mehr Bilder, die den Weg dokumentieren, der mich, was ich noch nicht wußte, über Ribadiso hinaus noch weitere fünf Kilometer bis nach Arzúa führen sollte.

 
 
Mañana

8.13 Uhr: Morgendämmerung.

Endlich Licht zum Fotografieren!

 
 

Der Weg wirkt noch etwas wackelig ...

... aber es wird zunehmend heller.

 
 

Hier wirkt die Landschaft noch wie ein Scherenschnitt.

 
 
 

Kräftige Eichenstämme säumen die Wege.

Windräder auf dem Hügelkamm.

 
 

9.02 Uhr: Auf einem der alten Dorfverbindungswege.

9.29 Uhr: Platz mit Cruzeiro und Löwentor in Coto.

 
 

Im Detail noch pittoresk ...

... zeigt sich hier der Verfall.

 
 

Eine verwilderte Katze in Farbe und Haltung fast eins mit den Mauersteinen .

Dorfkirche in Coto.

 
 

Calzada (Reste alter Pflasterung) und Spitzbogenbrücke vor Leboreiro.

Die Spitzbogenbrücke.

 
 

Nun geht es die calzada bergauf.

Leboreiro erreichte ich nach dem Zeitstempel meiner Kamera gegen 9.36 Uhr, zweieinhalb Stunden nach meinem Start in Palas do Rei. Etwas später mußte ich ein servicio in Anspruch nehmen, die Erhöhung des Grundumsatzes in der Morgenkühle forderte trotz mäßigen Trinkens ihren Tribut. Kaufte mir bei der Gelegenheit ein pequeño bocadillo con queso, sehr knusprig und reichlich mit leckerem Käse belegt, daß ich es gleich ganz verzehrte!
Die heideähnliche Hochebene mit ihren blauen und gelben Blüten mußte ich mehrfach fotografieren, war es die Herbststimmung oder der sich in der Ferne verlierende Karrenweg? Wege und Straßen hatten es mir schon immer angetan, seit ich von einer Deutung der Schubertschen Klaviersonaten las als in Noten gesetzte Wegbeschreibungen, die sich auch bei mir beim Hören als Vorstellungen endloser Pfade manifestierten - oder die Monographie über den amerikanischen Fotografen Walker Evans, 'Der unstillbare Blick', die mich derartig bewegt, und mit einem tiefen Glücksgefühl den Schlaf genommen hatte, daß ich immer wieder bewundernd seine Bilder habe anschauen müssen: "Auf der Straße kann ich meinen Blick schulen und ihm die Nahrung geben, die er braucht - der hungrige Blick, und mein Blick ist unstillbar." W.E.
 

Karrenweg.

 
 
 

Noch 55,5 km bis Santiago de Compostela. (9.45 Uhr)

Der gelbe Pfeil, Orientierungshilfe und Bestätigung.

 
 

Das Gelb des Pfeils weist über Herbststimmung dieser einsamen Hochebene hinaus auf das Ziel des Weges.

Mit einem Mountainbike müßte es auch großen Spaß machen, diese Strecken abzufahren.

 
 

Freiheit für Galicien ...

... ein Gedenkstein für den von der ETA erschossenen Miguel A. Blanco Garrido, dessen Familie aus Galicien stammt...

 
 

... und das Kreuz, das auf Santiago de Compostela weist: ein errinnerungsschwerer Platz.

Es geht mal wieder bergab.

 
 

10.28 Uhr: Gepflasterte Straße vor Furelos.

Brücke über den Río Furelos.

 
 

Furelos, Kirchturm.

Innenraum der Kirche in Furelos mit dem besonderen Kruzifix, von dem eine Hand Jesu zu Boden weist. Schon vor der kleinen Kirche wurden alle Ankömmlinge auf diese Besonderheit hingewiesen und förmlich ins Innere eskortiert - so ich konnte ich nicht anders als mir die englischen Erläuterungen des Pfarrers geduldig anzuhören und mit einem Obulus zu honorieren.

 
 

11.11 Uhr: Etwas später dann: Melide.

María mit dem Kind.

 
 

An einem Cruzeiro vorbei, den Verlockungen der grünen Bank widerstehend, führt mich der Weg ...

... an einem Kirchlein vorbei - nach Melide bin ich nun ....

 
 

...auf dem Weg nach Santa María.

Ein überdachter Waschplatz bei Santa María, der, noch genutzt, mit den Erinnerungen an eine Kindheit auf dem Dorf, Gefühle demütiger Bescheidenheit, gegenüber einem Leben aufkommen ließ, das weitab medialen Vollkommenheitswahns, noch heute existiert.

 
 

Das erste bewußt fotografierte Eukalyptuswäldchen mit seinem fremdartigen Aussehen: die noch jungen Bäume ...

... mit ihren langen blaugrünen Blättern und die hochragenden Stämme mit ihrem gedrehten und vertrockneten Blattwerk.

 
 

11.50 Uhr: Eine Brücke aus Steinblöcken stellt sich vor.

Die massiven Trittsteine scheinen ein bequemes Überqueren über den Río Catasol zu garantieren.

 
 

Ein wenig balancieren muß man aber doch.

Nun ist es geschafft.

 
 

Ein Blick zurück.

Ich habe nicht alle verfallenen oder zum Verkauf angebotenen Häuser fotografiert, aber es ist unübersehbar, daß hier eine idyllische Landschaft vor einer ungewissen Zukunft steht. Meine Gesprächspartner am Rande des camino berichteten von ihren Kindern in der Schweiz und in Deutschland - sie selbst aber bekannten sich mit unaufdringlichem aber spürbarem Stolz als Galicier. Doch die Landwirtschaft, mit der Landschaft in Symbiose lebend, ernährt nicht mehr genügend Menschen, die jungen Leute zieht es in die galicischen Küstenregionen oder ins Ausland - Dörfer, ganze Landstriche sind menschenleer.
 

Wie geht es weiter?

Ein alter Hórreo.

 
 

Stiller Waldweg.

Der Hortensienbusch.

 
 

Alt ....

.... und neu.

 
 

Die blaue Tür.

Es ist 12.42 Uhr als ich das untenstehende Haus mit dem gemütlichen Vordach aufs Bild banne. Gern hätte ich auf der kleinen Bank eine Weile ausgeruht, doch das hätte mich aus dem endlich gewonnenen Rhythmus gebracht, der nur durch das Fotografieren unterbrochen werden durfte. Auch hätte ich mir gewünscht noch zusätzlich Notizen gemacht zu haben, doch das Band des Weges zog mich unablässig vorwärts, die Beine mußten folgen - ein Schritt nach dem anderen: der Weg ist das Ziel!
 

Die kleine Bank unter dem kühlen und schattigen Weinlaubdach lädt zum Verweilen ein, doch el camino ist unerbittlich.

 
 
 

Mit der Palme fast ein balinesisches Langhaus!

Vino.

 
 

Galicische Rinder.

 
 
 

Bach und ...

Brunnen ...

 
 

... spenden Wasser für das grüne Galicien.

Eine staubige Schotterstraße führt weit hinab, wie und wo mag sie enden?

 
 

Bergauf, welche Frage!

Viele Pfeile zeigen nach Río, der Kilometerstein mit der Muschel fällt kaum auf. Auf dem Picknickplatz vor Río hatte ich doch noch einen kurzen Halt eingelegt, auch um den weiteren Weg im Dumont nachzuschlagen.

 

Es war schon spät (13.17 Uhr), später als an den anderen Tagen und Ribadiso noch nicht in Sicht. Die fünf Kilometer bis Arzúa wollte ich mir ersparen. Die Mittagshitze machte mir, vereint mit den Schmerzen meines gepeinigten Knies sehr zu schaffen, der Rucksack drückte auf die Schultern, da half ein Gewichtverlagern nur kurze Zeit. Doch es sollte fast halb drei werden, bis sich die Hoffnungen auf eine Dusche und eine Mahlzeit erfüllen würden! Jede Wegbiegung und jede Erhöhung konnte den Blick auf Ribadiso freigeben, waren es vielleicht schon die Häuser an einem Hang in der Ferne?
Mein Mittagessen hatte ich schon seit langer Zeit auch gegen deutsche Gepflogenheiten auf 15 Uhr verlagert, nun aber geriet auch dieser Zeitpunkt ins ungewisse, der Dumont orakelte von einer Gesamtgehzeit bis Arzúa von 9 Stunden! Das hieße eine Ankunft um 16 Uhr. Nach und nach werde ich von meinen Weggefährten überholt, die trotz eines späteren Starts nun meinen Vorsprung aufgeholt haben, was meine Ungeduld noch verstärkt.

 
 

Ein malerisches Gartenstück mit galicischem Stielkohl.

 
 
 

Woher mögen wohl die massiven behauenen Ecksteine stammen, die diesen verlassenen Eingang flankieren?

13.43 Uhr: Weggefährten überholen mich.

 
 

Die Gruppe aus Berlin, ihnen 'klagte ich noch mein Leid mit dem Knie'.

Der unscheinbare Weg jenseits der asphaltierten Fahrstraße ist ohne den gelben Pfeil kaum zu erkennen.

 
 

Noch 40 km bis Santiago de Compostela. (13.53 Uhr)

Die Herberge von Ribadiso.

 
 

Dieses schöne Fleckchen Erde verlockte zum Bleiben, doch war um diese Zeit (13.57 Uhr) wohl kein guter Platz mehr zu erhalten. Also weiter nach Ribadiso!

14.08 Uhr: Ribadiso ist ein zu kleiner Ort, eine Suche nach einer habitación erwies sich leider als ergebnislos. So geht es bergauf mit der Stimmung bergab!

 
 

Müde hinke ich weiter, vergesse aber das Fotografieren nicht.

Endlich (14.21 Uhr) das Ortsschild von Arzúa! Es waren ab hier fast noch 2 km, ich biß die Zähne zusammen und ging nahezu normal und locker bis ins Zentrum von Arzúa, nachdem vorher keine geeignete Bleibe zu finden war.

 
 

Dieses Denkmal einer Marktfrau am Rande des von Platanen beschatteten Platzes fotografierte ich später.

Ich hatte es nochmal geschafft. Fragte nach der Kirche und einer habitación, die ich schließlich mit geduldigem Erkunden in der Nähe des schattigen Treffpunkts im Zentrum von Arzúa fand. Ein kleines Hotel mit einem kleinen Restaurant neben einem Geschäft mit Küferbedarf (Weinfässer im Schaufenster), in dem ich ein schönes Zimmer und hervorragendes Essen (primero: pasta, segundo: pesces und auch herrliche in Öl gebackene pimientos do Padrón rund um den Teller gelegt 'Os pementos de Padrón, uns pican, outros non', Pimientos aus Padrón, manche nicht scharf, andere schon, eine Art kulinarisches Roulette, schließlich als postre tarta de Santiago und einen café con leche) bekam. Das Glas Wasser wurde aber nicht benötigt! Dazu gab es nette Unterhaltung, fast mit Familienanschluß, hier fiel der Abschied am schwersten. Das Loslassen muß man lernen auf dem camino, leider lernte ich es noch nicht gründlich genug, daß es mich später vor selbstverschuldetem Leid bewahrt hätte!
 
 

Die Sonne zeigt noch ihre Kraft aber der Herbst kündigt sich an.

 
 
 

Ein Platz für Begegnungen.

Der Weg für die nächste Etappe wird erkundet.

 
 

Ein verstellter Himmel.

Xacobeo mit Pilgerhut und Muschel.

 

Um 17.30 Uhr sitze ich draußen vor einer Bar mit Blick auf die plaza municipal, der Platanen Schatten spenden und trinke ein BitterKAS, ein mir bisher nur aus meinem Spanisch-Lehrbuch bekanntes Getränk, das ich auf die Frage des Kellners bestellte und umgehend erhielt. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm. Jenseits der Platanen quält sich der Schwerlastverkehr an der plaza municipal vorbei, Tanklastwagen, Langholzfahrzeuge, Autotransporter und wenn das Gehupe zu arg wird, schaltet sich energisch pfeifend eine Polizistin ein und bringt den stockenden Verkehrsfluß erneut in Schwung.
Der Blick auf die gescheckten Platanenstämme, bringt mir die Eukalyptuswäldchen in Erinnerung, die aussehen wie eine Illustration des Waldsterbens, die kahlen, hoch hinaufreichenden Stämme, weit oben erst die gedrehten Blätter, die sich winden, wie nach Wasser schreiend. Eine Karikatur nach Botero-Manier schießt mir durch den Kopf: der Stamm behängt mit aufgeplusterten Eukalyptusbonbons mit ihrem typischen giftgrünen an den Enden gedrehten Einwickelpapier.
Der Weg für den nächsten Morgen war erkundet, der Stempel in die Credencial gedrückt nach Befragen eines behäbigen Priesters, der seinen knappen Worten eine vage Handbewegung als Richtungsangabe folgen ließ, in einem schließlich entdeckten unscheinbaren, auch als Abstellraum von allerlei Kirchenutensilien dienenden Büro. Den Einkauf im supermercado erledigte ich später, noch bevor es zu regnen anfing. Es war kälter geworden und als ich im Gästeraum meiner Bleibe dem spanischen Fernsehen zuschaute, packte mich unvermittelt ein Schüttelfrost, daß ich kaum ein Wort meiner Bestellung herausbrachte, derartig klapperten meine Zähne. Mit dem geschwollenen und entzündeten Knie mühte ich mich, so schnell ich konnte, treppauf, vorwärtsgetrieben von dem Gedanken nur schnell etwas Warmes überzuziehen. Ein Pullover und meine Fleecejacke mit Rollkragen, die schon im kühleren O Cebreiro gute Dienste geleistet hatte und ein paar Tropfen aus meiner Reiseapotheke brachten den Kreislauf wieder in Ordnung. Angesichts eines liebreizenden Bildes der Mutter María, das in meinem Zimmer über dem Bett hing, mochte ich mich auch nicht zu sehr gehen zu lassen.
Das Abendessen salado y huevas, patata con asparagus und vino tinto ließ ich mir wieder schmecken, in einer angenehmen Atmosphäre, zubereitet von einer mütterlichen patrona, daß ich mich 'wie zu Hause' fühlte. Meine kleine Küche in Hannover, sollte nach der Rückkehr trotz der allein und schnell bereiteten Mahlzeiten aus der Erinnerung etwas von diesem Flair erhalten.
Als ich auf mein Zimmer zurückkehrte und das Fenster öffnete, regnete es noch immer, ein sachter aber ergiebiger Landregen, der bis zum nächsten Morgen kurz vor meinem Abschied von Arzúa anhalten sollte.

 
 
 
©fotos y textos: Folker Wagner Mummenthey